Universität Hamburg
Institut für Politische Wissenschaft
SoSe 2003 – HS 05.382: Rogue States? Vergleichende Länderanalysen
Dozent: Dr. H. J. Gießmann
Referent: André Scheer
“Rogue State” Kuba im lateinamerikanischen Vergleich
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Was ist ein “Rogue State” / “Schurkenstaat”?
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“Schurkenstaat” Kuba und “Demokratie” Kolumbien?
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Hintergründe der Bewertung Kubas
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Was ist ein “Schurkenstaat”?
Der Begriff “Rogue State” bzw. “Schurkenstaat” ist ursprünglich kein Begriff der akademischen Diskussion, sondern wurde in den 90er Jahren von der US-Regierung eingeführt, ohne ihn exakt zu definieren. Insbesondere in der jüngsten Vergangenheit wird dieser Begriff begleitet von einer Reihe anderer neuer Bezeichnungen, die ergänzend oder gelegentlich auch synonym verwendet werden. Zu diesen neueren Begriffen gehören die von US-Präsident Bush im Januar 2002 eingeführte Bezeichnung “Axis of Evil” / “Achse des Bösen”1 oder auch die ebenfalls von Bush geprägte Formulierung “any dark corner of the world” / “jeder düstere Winkel der Welt”2.
Der Begriff “Rogue State” ist sogar innerhalb der US-Politik umstritten. Unter der Regierung Clinton wurde er zeitweilig nicht mehr verwendet. Dies änderte sich erneut mit dem Regierungsantritt von George W. Bush.
Da es sich bei der Verwendung dieser Begrifflichkeiten nicht um einen wissenschaftlichen Sprachgebrauch, sondern um tagespolitisch geprägte Äußerungen handelt, haben die offiziellen US-Stellen bislang auf eine exakte Definition dieses Terminus verzichtet. Ursache hierfür ist vermutlich, daß eine zu enge Auslegung des Terminus “Schurkenstaat” bislang mit diesem Begriff belegte Staaten ausschließen würde, während eine zu weite Definition Verbündete der USA einbeziehen würde. Wir werden darauf anhand des Vergleichs von Kuba und Kolumbien noch eingehen.
In der Publizistik gibt es hingegen zahlreiche Versuche einer mehr oder weniger exakten Begriffsbestimmung. Dabei führt bspw. John Rawls eine sehr weite – und m.E. unbrauchbare – Definition ein, wenn er schreibt:
„… bestimmte Regime (die) es ablehnen, ein vernünftiges Recht der Völker zu befolgen.“3
Die erste Problematik dieser Definition ergibt sich schon aus der subjektiven Formulierung “vernünftiges Recht der Völker”, worunter Rawls nicht weniger unklar “eine bestimmte politische Konzeption des Rechten und der Gerechtigkeit, die sich auf die Grundsätze und Normen des internationalen Rechts und internationaler Praktiken bezieht,”4 versteht.
Eine ausführlichere Definition bietet Barry Rubin in der Zeitschrift “Internationale Politik” an:
„Es ist praktisch unvermeidbar, daß ein Staat, den man als Schurkenstaat bezeichnet, eine repressive Diktatur hat. Diese Regierungsform allein ist jedoch nicht ausreichend für eine solche Klassifizierung. Noch wichtiger ist, daß dieses Regime als nach außen hin aggressiv angesehen wird. Ebenso ist ein Schurkenstaat nicht nur ein Land, dessen Interessen denen der Vereinigten Staaten zuwiderlaufen, sondern eines, das auch die internationale Ordnung gefährdet. Ein solcher Staat droht, die USA in einen Konflikt zu ziehen, auch wenn Amerika dies vermeiden will. Da das Regime nicht auf herkömmliche diplomatische Maßnahmen reagiert und beispielsweise Signale fehlinterpretiert oder es ablehnt, systematisches Unterminieren und Terrorismus zu unterlassen, versagen vertrauensbildende Maßnahmen oder Methoden der Konfliktprävention. Andere, härtere Maßnahmen und Haltungen werden notwendig. Diese müssen nicht zwingend Krieg bedeuten, es sei denn, der Schurkenstaat unternimmt besondere Schritte, die ein solches Vorgehen unvermeidbar machen. Die Vereinigten Staaten ziehen es vor, solche Regime durch Nichtanerkennung und Sanktionen zu isolieren und internationale Bündnisse zu schließen, um ihrer Aggression oder Expansion Einhalt zu gebieten.“5
Wir können natürlich auch die „objektiven“ Punkte aus einer unserer ersten Seminarsitzungen als Definition aufgreifen:
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Verletzung der Souveränität Dritter
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Menschenrechtsverletzungen
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Militärisch aggressives Verhalten
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Menschenrechtsverletzende Sanktionen
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Terrorsponsoring
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Staatsterror
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Verstoß gegen Völkerrecht
Im Folgenden möchte ich untersuchen, inwieweit die USA den Begriff “Rogue State” / “Schurkenstaat” objektiv gebrauchen. Dazu beschränken wir uns im Wesentlichen auf zwei Beispiele aus der hispanoamerikanischen Region, nämlich Kuba, das aus US-Sicht als ein “Paradebeispiel” eines Schurkenstaates angesehen werden kann, und Kolumbien, einem der engsten Verbündeten der USA in der Hemisphäre.
2.1 “Schurkenstaat” Kuba
Der nur 90 Meilen vor der US-amerikanischen Küste gelegene Inselstaat Kuba stellt für die USA seit dem Sieg der Kubanischen Revolution 1959 ein dauerhaftes Problem dar. Besondere Aufmerksamkeit wird Kuba allerdings bereits sehr viel länger zuteil.
Schon zu Zeiten der südamerikanischen Unabhängigkeitsbewegung gegen die spanische Kolonialmacht erteilten die USA dem Führer dieser Bewegung, Simón Bolívar, eine deutliche Warnung, seine Aktivitäten nicht auf Kuba und Puerto Rico auszudehnen. So erhielt Bolívar 1826 eine Mitteilung: “[Der kolumbianische Außenminister] Revenga informiert euch vertraulich über eine von den USA zu dem Zweck unternommene Demarche, uns von einer Expedition nach Kuba abzuhalten. Havanna ist für die USA der wichtigste Handelsplatz, und da der Handel der wahre Gott der Amerikaner ist, fürchten sie, daß sich die Unabhängigkeit dieser Insel ungünstig auf ihre Interessen auswirken würde.”6 Und schon 1824 hatte US-Präsident Jefferson an seinen Außenminister Monroe geschrieben: “Ich bekenne offen, daß ich immer auf Kuba als die interessanteste Ergänzung geblickt habe, die man dem System, unserer Staaten irgendwann wird geben können.”7
Die Hoffnung auf einen Bundesstaat Kuba erfüllte sich zwar nicht, jedoch konnten die USA Kuba jahrzehntelang eng an sich binden. Nach dem Ende des kubanisch-spanischen Unabhängigkeitskrieges wurde die Insel Ende 1898 von den USA besetzt und von Spanien an die Vereinigten Staaten abgetreten. Am 20. Mai 1902 wurde die unabhängige Republik Kuba proklamiert, deren Verfassung aber einen Zusatz enthielt (das sog. “Platt-Amendment”), wonach es den USA jederzeit gestattet war, in die inneren Angelegenheiten des Landes zu intervenieren, wovon die USA mehrfach auch diplomatischen und militärischen Gebrauch machten, so 1906 und 1912. Die enge Anbindung Kubas an die USA – die auch als halbkolonialer Status bezeichnet werden kann –, endete erst mit dem Sturz des Batista-Regimes am 1. Januar 1959.
Die USA lehnten die auf diesem Wege gebildete nationalistische Regierung “vor ihrer Haustür” ab und begannen praktisch sofort nach der Machtübernahme durch die kubanischen Revolutionäre mit einer Politik des ökonomischen Drucks und der Unterstützung bewaffneter konterrevolutionärer Gruppen auf der Insel. Die kubanische Regierung reagierte darauf mit einer Radikalisierung ihrer Politik, deren Gipfelpunkt die Proklamierung des “sozialistischen Charakters der Revolution” im April 1961 durch Fidel Castro war.
Es würde an dieser Stelle sowohl vom Umfang her als auch thematisch zu weit führen, den Konflikt zwischen den USA und Kuba bis in unsere Zeit nachzeichnen zu wollen, zumal dies eine nähere Beschäftigung auch mit der Konfrontation zwischen den USA und der UdSSR erfordern würde.
Mit dem Ende der Blockkonfrontation 1989/91 gingen führende Kreise auch von einem baldigen Sturz der Regierung Castro aus. Insbesondere der Wegfall der wichtigsten Handelspartner bewirkte einen weitgehenden Zusammenbruch der kubanischen Wirtschaft. Trotzdem gelang es der kubanischen Regierung, ihre Macht zu behaupten, worauf die USA mit einer weiteren Verschärfung des Embargos und weiterer Maßnahmen gegen Kuba reagierten.
Vor diesem Hintergrund ist die US-amerikanische Politik gegenüber Kuba und die Einordnung Kubas unter die “Schurkenstaaten” zu sehen. US-Außenminister Colin Powell faßte diese Politik in einem Aufsatz den US-Präsidenten zitierend so zusammen:
“’Amerika wird immer fest zu den unverhandelbaren Notwendigkeiten menschlicher Würde stehen: die Rolle des Gesetzes, Begrenzung der Staatsmacht, Achtung der Frauen, Privateigentum, Redefreiheit, Gleichheit vor dem Gesetz und religiöse Toleranz.’ Eine viel bessere Zukunft erwartet Kuba, die bestimmt ist von der Respektierung der Menschenrechte, der Rolle des Gesetzes, offenen Märkten und größerem Wohlstand. Wir sehen dem Tag entgegen, an dem Kubas Volk frei sein wird und sein Land der großen und vitalen Familie der Demokratien angehören wird.”8
2.2. “Demokratie” Kolumbien
Nicht in die Gruppe der “Schurkenstaaten” gehört den USA zufolge Kolumbien. Dieses Land sei eine “konstitutionelle Demokratie mit einem Mehrparteiensystem”9, wenn auch die Menschenrechtssituation in diesem Land “unzulänglich”10 bleibe.
Kolumbien gehört heute außenpolitisch zu den treuesten Verbündeten der USA in Südamerika. Die Bedeutung für die USA hat noch zugenommen, seit in Venezuela mit Hugo Chávez und in Brasilien mit Lula da Silva Politiker regieren, die den USA skeptisch bis ablehnend gegenüber stehen. Gleichzeitig stellt Kolumbien angesichts der instabilen politischen Situation einen Sorgenfaktor für die USA dar. Besonders das Agieren starker Guerillaorganisationen – der kommunistisch orientierten Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens – Armee des Volkes (FARC-EP) und der als “guevaristisch” bezeichneten Nationalen Befreiungsarmee (ELN) – ruft in den USA starke Besorgnis hervor.
Die bilateralen Beziehungen zwischen den USA und Kolumbien sind trotz zeitweiliger Spannungen stabil. Das Bureau of Western Hemisphere Affairs des US State Department vermerkt in seinem Länderbericht, daß die USA 1822 eines der ersten Länder waren, von denen die Unabhängigkeit Kolumbiens anerkannt wurde, und die eine ständige diplomatische Vertretung eingerichtet hätten.11 Der Bericht hebt die Intensivierung der bilateralen Beziehungen unter der Präsidentschaft Pastranas (1998-2002) hervor, insbesondere nach der Verkündung des “Plan Colombia”, der von den USA mit zusätzlichen 1,3 Milliarden Dollar unterstützt wird.12 Auf die Menschenrechtssituation in Kolumbien, das von Noam Chomsky als “einer der größten lateinamerikanischen Menschenrechtsverächter”13 bezeichnet wird, geht der Bericht nicht ein.
2.3. Das Problem der Menschenrechte in Kuba und Kolumbien
Der Themenkomplex “Menschenrechte” gehört zu den Kategorien, die in den meisten Definitionsversuchen des Begriffs “Schurkenstaat” als Kriterium benannt wird. Es ist allerdings zu Bezweifeln, daß dieses Kriterium tatsächlich ein entscheidendes Merkmal für die Aufnahme eines Landes in die Liste der “Schurkenstaaten” durch die US-Behörden ist. Dies wird m.E. anhand eines Vergleiches der Menschenrechtssituation in Kuba und Kolumbien deutlich..
Der Menschenrechtsbericht 2001 der US-Botschaft in Bogotá spricht im Falle Kolumbiens von “außergerichtlichen Hinrichtungen”, Folter und Mißhandlungen durch die Sicherheitskräfte. Ein Problem bliebe die “Straflosigkeit” der Verstöße gegen die Menschenrechte und “einige Mitglieder der Sicherheitskräfte arbeiten mit Paramilitärs zusammen”14.
Im Falle Kubas faßt Colin Powell die dortige Menschenrechtssituation aus der Sicht der USA wie folgt zusammen:
“Das Volk von Kuba hat keine Redefreiheit, Bewegungsfreiheit oder Recht auf Privateigentum. Sie werden weiter willkürlich eingesperrt, wenn sie ihre Regierung kritisieren.”15
Die kubanische Sicht dieser Angelegenheit ist natürlich eine andere. In einem Gespräch mit einem der Führer der nikaraguanischen Sandinisten, Tomás Borge, erklärte Fidel Castro 1992: “Ich bin der festen Überzeugung – ganz offen und objektiv gesprochen –, daß kein Land der Erde mehr für die Menschenrechte getan hat als Kuba.”16 Der kubanische Staatschef bezieht sich dabei vor allem auf die Erfolge der kubanischen Politik im sozialen Bereich, so beim Kampf gegen Krankheiten, den Analphabetismus und die Chancengleichheit.
Unabhängig von Regierungen erstellt die internationale Menschenrechtsorganisation Amnesty International ihre Analysen. Eine Gegenüberstellung der Bewertung Kolumbiens und Kubas durch diese Organisation anhand des Jahresberichtes 2002 ist aufschlußreich. In Bezug auf die Kriterien, wann ein Land in den AI-Jahresbericht aufgenommen wird, ist erwähnenswert, daß sowohl die USA als auch die Bundesrepublik Deutschland regelmäßig Erwähnung in diesen Berichten finden.
Über Kolumbien heißt es im Jahresbericht 2002 u.a.:
„Der bewaffnete Konflikt in Kolumbien eskalierte während des Berichtsjahres weiter. Nach wie vor fanden systematische und schwere Verstöße gegen die Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht statt. Paramilitärische Gruppierungen, die mit der Unterstützung oder stillschweigenden Duldung der Sicherheitskräfte operierten, trugen die Verantwortung für die weitaus meisten der bekannt gewordenen extralegalen Hinrichtungen und Fälle von »Verschwindenlassen«. Die Paramilitärs folterten ihre Opfer oft, bevor sie sie umbrachten. (…)
Paramilitärische Gruppierungen konnten weiterhin ungehindert Massaker an Zivilisten begehen.“17
Über Kuba informiert die selbe Quelle:
„Nach wie vor wurde auf Kurzzeitinhaftierungen und sonstige Schikanen zurückgegriffen, um die Aktivitäten von Journalisten, politisch engagierten Bürgern und anderen Personen zu unterdrücken. (…)
Nach wie vor brachten die kubanischen Behörden Regierungskritiker hinter Gitter, die lediglich ihre Rechte auf freie Meinungsäußerung sowie auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit in friedlicher Weise wahrgenommen hatten. Einschränkungen dieser fundamentalen Rechte blieben gesetzlich verankert. (…) Ende des Berichtszeitraums befanden sich in Kuba mindestens sieben gewaltlose politische Gefangene in Haft. (…)
Eine Reihe von Dissidenten wurde mehrere Monate lang ohne Gerichtsverfahren in Haft gehalten, bevor man sie wieder auf freien Fuß setzte. Es handelte sich bei ihnen um gewaltlose politische Gefangene.“18
Auch wenn Amnesty International Kuba nicht von Menschenrechtsverletzungen frei spricht, so ist hier von “systematischen und schweren Verstößen gegen die Menschenrechte” im kolumbianischen Maßstab nicht die Rede. Außergerichtlichen Hinrichtungen, Folter, paramilitärischen Gruppen usw. berichtet Amnesty International aus Kuba jedenfalls nicht, eine Tatsache, auf die auch die kubanische Führung immer wieder hinweist, wenn sie in Bezug auf die Menschenrechte kritisiert wird.
In der Seminardiskussion wurde bezweifelt, daß die Menschenrechtsfrage von der Bürgerkriegssituation in Kolumbien abstrahiert werden könne, und ob vor diesem Hintergrund beide Länder überhaupt vergleichbar seien.
Hierzu ist m.E. festzustellen, daß der Bürgerkrieg in Kolumbien in erster Linie ein sozialer Konflikt ist. Kolumbien ist bereits seit Jahrzehnten von einer praktisch konstanten Gewaltsituation geprägt, die sich vor allem aus den gravierenden sozialen Unterschieden nährt. Auch die heute aktiven Guerillaorganisationen entstanden vor diesem Hintergrund. So liegen die Wurzeln der FARC-EP in den 60er Jahren, als das kolumbianische Militär gegen Formen selbstbestimmten Lebens kolumbianischer Bauern vorging. Den damaligen bewaffneten Widerstand der Bauern betrachten die FARC-EP heute als das Datum ihrer Gründung.19 Versuche einer friedlichen Beilegung des bewaffneten Konflikts scheiterten in der Vergangenheit wiederholt daran, daß die legalen oppositionellen Organisationen das Ziel von Unterdrückungsmaßnahmen wurden, so in den späten 80er Jahren die auf Initiative der FARC-EP und der Kommunistischen Partei gegründete “Unión Patriótica” (UP). Diese Organisation wurde faktisch physisch liquidiert, mehrere Hundert Mitglieder und fast alle Funktionsträger fielen “unbekannten Tätern” zum Opfer.20
Deshalb kann die Menschenrechtssituation in Kolumbien nicht mit dem bewaffneten Konflikt erklärt werden, sondern muß umgekehrt das Agieren der Guerillaorganisationen zumindest teilweise als Reaktion auf die soziale und Menschenrechtssituation angesehen werden. Darauf deutet auch hin, daß derzeit die Opfer von Menschenrechtsverletzungen hauptsächlich in den Reihen legaler Organisationen, vor allem in den Gewerkschaften, zu finden sind.21
2.4. Aggressivität gegenüber Nachbarn
Die militärische Bedrohung der USA oder anderer Staaten durch “Schurkenstaaten” ist derzeit das Hauptargument der US-Behörden für diplomatische, wirtschaftliche und militärische Maßnahmen gegen eine Reihe von Staaten, die der “Achse des Bösen” zugerechnet bzw. als “Schurkenstaaten” definiert werden: “States like these, and their terrorist allies, constitute an axis of evil, arming to threaten the peace of the world.”22
Wenn Aggressivität nach Außen – direkt oder mittels “terroristischer Verbündeter” – ein konstituierendes Merkmal für einen “Schurkenstaat” darstellt, so fällt es schwer, Kuba in die Reihe dieser Staaten einzureihen.
Zweifellos hat Kuba in der Vergangenheit von den USA als “terroristisch” empfundene Organisationen in Lateinamerika unterstützt bzw. direkt angeleitet, so im Falle der von Ernesto “Che” Guevara geführten Guerilla in Bolivien, bei der dieser ehemalige Minister der kubanischen Regierung 1967 ermordet wurde. Man kann darüber streiten, ob diese kubanische Politik eine “Unterstützung des Terrorismus” im Sinne der heutigen Diskussion war. Doch selbst wenn man dies bejaht, so stellen offizielle US-Stellen fest, daß die Unterstützung derartiger Bewegungen seit 1990 eingestellt worden ist:
“Seit dem Ende der sowjetischen Unterstützung scheint Kuba die finanzielle Unterstützung für Guerrillabewegung weitgehend eingestellt zu haben.” 23
Im CRS-Report “Cuba: Issues for Congress”24 des Congressional Research Service wird auf eine Aussage Fidel Castros von 1992 verwiesen, wonach die Unterstützung Aufständischer eine “Sache der Vergangenheit” gewesen sei. Kuba bleibe aber auf der Liste der “den Terrorismus unterstützender Staaten” aufgrund des Asyls für baskische ETA-Mitglieder und “US-amerikanische Justizflüchtlinge” sowie aufgrund der weiterhin bestehenden Kontakte zu den kolumbianischen Guerrillaorganisationen FARC und ELN.
Keinerlei Hinweis gibt es in den US-Dokumenten auf eine direkte militärische Bedrohung anderer Länder – oder gar der USA selbst – durch Kuba. Das bereits erwähnte Länderprofil des State Department bezeichnet die militärische Ausrüstung und Strategie Kubas als “defensiver Natur”.25 Es kann mit Noam Chomsky außerdem bezweifelt werden, ob Kuba jemals eine militärische Bedrohung der USA oder anderer Länder der Region dargestellt hat:
“Wir können jetzt also etwas lockerer sein und müssen uns nicht mehr hinter Tischen und Bänken verstecken, was man uns als Erstkläßlern noch beibrachte. Aber als dergleichen öffentlich verkündet wurde, hat zumindest bei uns niemand gelacht. Anderswo schon, wenn man an die Reaktion des mexikanischen Botschafters denkt, als Kennedy zu Beginn der sechziger Jahre in Mexiko um Unterstützung für seine Politik warb und glaubhaft machen wollte, daß Kuba die innere Sicherheit nicht nur in den USA bedrohe. Der Botschafter mußte dankend ablehnen, weil sich, so meinte er, 40 Millionen Mexikaner totlachen würden, wenn er ihnen nahezubringen versuchte, daß Kuba eine Gefahr für Mexikos innere Sicherheit sei.”26
Fidel Castro selbst hat während seines Besuchs in Buenos Aires im Juni 2003 mit Blick auf die US-Strategie “präventiver Angriffe” geäußert: “Wir schicken präventiv Ärzte in alle Welt.”
Um auf den Vergleich mit Kolumbien zurückzukommen, können wir feststellen, daß auch Kolumbien keine offene Aggressivität gegen Nachbarländer zeigt, wenn wir von latenten Grenzkonflikten mit angrenzenden Staaten absehen, die noch aus der Zeit der Erlangung der Unabhängigkeit von der spanischen Kolonialmacht herrühren.
Im April 2003 kam es allerdings wiederholt zu Spannungen in der Grenzregion zwischen Kolumbien und Venezuela, als die venezolanische Luftwaffe kolumbianische paramilitärische Gruppen angriff, die auf venezolanisches Territorium eingedrungen waren.27 Diese Ereignisse machten schlagartig die latente Gefahr eines Übergreifens des Bürgerkrieges in Kolumbien auf Venezuela deutlich. Offene Drohungen in diese Richtung hatten bereits zuvor die Führer der kolumbianischen Paramilitärs ausgesprochen, als sie die Gründung eines venezolanischen Ablegers ihrer Organisation bekanntgaben.
2.5. Massenvernichtungswaffen
Auch das Streben nach Massenvernichtungswaffen stellt für die USA ein zentrales Element in ihrer “Schurkenstaaten”-Theorie dar, zumal das Streben nach solchen modernen Waffen oftmals bereits die eigentliche Bedrohung darstellen dürfte.
In einem Dokument des Komitees für Auswärtige Beziehungen des US-Senats wird Kuba vorgeworfen, eine „begrenzte Entwicklungsoffensive zur biologischen Kriegsführung“ zu betreiben und „Schurkenstaaten“ mit „Dual-Use Biotechnology“ – also Erzeugnissen, die sowohl zivil als auch militärisch genutzt werden können – beliefert zu haben.28 Auch der Unterstaatssekretär für Waffenkontrolle, John R. Bolton, bezeichnet Kuba als “Bedrohung unserer Sicherheit”29 Bolton hebt die “am weitesten fortgeschrittene biomedizinische Industrie in Lateinamerika” hervor, aus der weltweit Medikamente und Impfstoffe verkauft werden. “Analysten” würden “diese Aktivitäten schon lange verdächtigen”.30
Abgesehen von diesen Äußerungen, die offensichtlich der Legitimation der gegen Kuba gerichteten Politik dienen, behauptet meines Wissens kaum jemand ernsthaft, daß Kuba nach Massenvernichtungswaffen streben würde. Sogar in der Studie der Kongreßbibliothek (CRS) „Terrorism, the Future and U.S. Foreign Policy“ wird Kuba ausrücklich als einziger der „State sponsors of Terrorism“ (die übrigen sind Iran, Irak, Libyen, Nordkorea, Sudan und Syrien) erwähnt, der sich nicht um Massenvernichtungswaffen bemüht.31
3. Hintergründe der Bewertung Kubas
Wie wir anhand der oben beschriebenen Fakten feststellen können, läßt sich die Einordnung Kubas als “Schurkenstaat” kaum anhand objektiver Kriterien begründen, bzw. ist eine eindeutige Abgrenzung Kubas zu anderen, nicht als “Schurkenstaaten” betrachteten unmöglich. Zu diesem Schluß kommt auch Noam Chomsky nach einer längeren Betrachtung der unterschiedlichen Behandlung von “Schurkenstaaten” – in diesem Falle am Beispiel des Irak – und Verbündeter der USA – Indonesien –:
“Der Begriff ‘Schurkenstaat’ ist sehr differenziert. So gilt Kuba wegen seiner angeblichen Verstrickung in den internationalen Terrorismus als führender ‘Schurkenstaat’, während die USA trotz ihrer seit fast vierzig Jahren durchgeführten Terrorangriffe gegen Kuba nicht unter diese Kategorie fallen. (…) Kuba war ein ‘Schurkenstaat’, als seine Militärkräfte in Angola die Regierung gegen südafrikanische Angriffe verteidigten, die ihrerseits von den USA unterstützt wurden. Südafrika wiederum galt damals und auch während der Ära Reagan nicht als Schurkenstaat, obwohl seine militärischen Aktionen einer UN-Kommission zufolge in den Nachbarstaaten eineinhalb Millionen Todesopfer forderten und Schäden in Höhe von sechzig Milliarden $ verursachten, ganz zu schweigen von den Verwüstungen im eigenen Land.”32
Diese grundsätzliche Bewertung des kubanischen Engagements in Angola durch die USA scheint sich übrigens bis heute nicht wesentlich geändert zu haben. Im Länderprofil des US State Department über Kuba wird die Unterstützung Angolas als “Unterstützung der Volksbewegung für die Befreiung Angolas (MPLA) in ihrem Bestreben zur Machtübernahme nach der Gewährung der Unabhängigkeit Angolas durch Portugal” bezeichnet.
Kuba ist für die USA nicht deshalb ein “Schurkenstaat”, weil es eine Bedrohung der USA oder anderer Staaten wäre, sondern aufgrund anderer Umstände. Diese anderen Umstände sind zuerst in den Folgen der Kubanischen Revolution von 1959 zu finden.
Wie eingangs bereits erwähnt, befand war Kuba bis 1959 politisch und wirtschaftlich eng an die USA angebunden und wurde sogar als “Bordell der USA” bezeichnet. Militärstrategisch war Kuba zumindest bis zum Ende des Kalten Krieges von großer Bedeutung. Gleichzeitig sorgte die geographische Nähe der Insel zu den Grenzen der USA zu einer unmittelbareren Wahrnehmung der politischen Entwicklungen auf Kuba als dies bspw. der Fall bei den anderen Staaten ist, die sich nach dem Ende der Blockkonfrontation noch – verbal oder tatsächlich – zum sozialistischen Staatsmodell bekennen.
Eine nicht zu unterschätzende Bedeutung haben auch die Organisationen kubanischer Emigranten, die sich hauptsächlich in Florida konzentrieren. Direkt und indirekt ist ihr Einfluß auf die US-Bundespolitik groß, wie sich nicht zuletzt bei den undurchsichtigen Ereignissen um die Wahl des heutigen US-Präsidenten George W. Bush zeigte. Gerade diese Abhängigkeit Bushs von Florida hat den Einfluß der Exil-Kubaner auf die US-Bundespolitik wieder anwachsen lassen, die nach dem Tode ihres einflußreichsten Politiker Jorge Mas Canosa33 und nach der Niederlage in der Auseinandersetzung um den kubanischen Jungen Elián gesunken war.
Zugleich war die lateinamerikanische Hemisphäre über mehrere Jahre offenbar aus dem Fokus der US-amerikanischen Außenpolitik verschwunden. In dem Dokument “Rebuilding America’s Defenses” taucht Kuba überhaupt nicht auf, Lateinamerika füllt gerade mal etwa eine halbe Seite.34 Die Entwicklungen der letzten Jahre in Lateinamerika könnten allerdings die US-Interessen in der Region, insbesondere das Projekt einer amerikanischen Freihandelszone (FTAA/ALCA) in Frage stellen. Insbesondere die “Bolivarianische Revolution” von Venezuelas Präsident Hugo Chávez, aber auch der brasilianische Präsident Lula da Silva und erst kürzlich der neue argentinische Präsident Kirchner setzen bei ihrem Streben nach einer größeren Eigenständigkeit von den USA auch auf eine engere Kooperation mit Kuba. Dabei werden sie von einer starken linken Bewegung unterstützt, wie erst Anfang Juni 2003 der begeisterte Empfang zeigte, den mehrere Zehntausend Argentinier Fidel Castro bereiteten. Weitere für die USA ungünstige Regierungswechsel könnten in den kommenden Monaten in Uruguay und El Salvador bevorstehen.
Vor diesem Hintergrund erscheinen Kuba und die USA in Lateinamerika als Gegenpole unterschiedlicher Gesellschaftsmodelle, wobei die USA häufig mit dem “neoliberalen” Wirtschaftsmodell der vergangenen Jahrzehnte gleichgesetzt werden, während für Kuba die für lateinamerikanische Verhältnisse hervorragenden Sozialindikatoren sprechen. Dabei wird den USA nur sehr eingeschränkt eine Vorbildfunktion als “Demokratie” zugestanden. In jüngster Zeit erschütterte besonders die vermutliche Verwicklung von US-Stellen in den – nach 48 Stunden gescheiterten – Putsch in Venezuela im April 2002 das Vertrauen in den demokratischen Charakter der USA.35
Deshalb ist die Stigmatisierung Kubas als “Schurkenstaat” für die USA von möglicherweise entscheidender Bedeutung.
1 George W. Bush: State of the Union Address, 29. Januar 2002; http://www.whitehouse.gov/news/releases/2002/01/print/20020129-11.html; abgerufen 13.4.2003
2 George W. Bush: Graduation Speech at West Point, 1. Juni 2002; http://www.whitehouse.gov/news/releases/2002/06/print/20020601-3.html; abgerufen 13.4.2003
3 John Rawls: „Das Recht der Völker“, Berlin 2002, S. 3
4 ebenda, S. 1
5 Barry Rubin: „‘Schurkenstaaten‘ – Amerikas Selbstverständnis und seine Beziehungen zur Welt“; in: „Internationale Politik“ Nr. 6, Juni 1999; (http://www.dgap.org/IP/ip9906/rubin.htm)
6 zit.nach Josef Lawrezki: Simón Bolívar – Rebell gegen die spanische Krone, Befreier Südamerikas; Köln 1981, S. 282
7 ebenda, S. 281
8 Colin Powell: „The United States and Cuba“, 7. April 2002; http://usinfo.state.gov/topical/pol/terror/02040809.htm; abgerufen 11.5.2003
9 Botschaft der USA in Bogotá: Informe sobre Derechos Humanos Colombia 2001; http://usembassy.state.gov/posts/co1/wwwsdh01.shtml; abgerufen 20.5.2003
10 ebenda
11 US Department of State, Bureau of Western Hemisphere Affairs: Background Note: Colombia, April 2002; http://www.state.gov/r/pa/ei/bgn/1831.htm; abgerufen 11.5.2003
12 ebenda
13 Noam Chomsky: War Against People; Hamburg 2001, S. 13
14 Informe sobre Derechos Humanos Colombia 2001, a.a.O.
15 „The United States and Cuba“, a.a.O.
16 Fidel Castro: Un grano de maíz. Conversación con Tomás Borge; Havanna 1992, S.219
17 Amnesty International Jahresbericht 2002: Kolumbien; http://www2.amnesty.de/internet/deall.nsf/c1070c04ee5add56c12567df002695be/3c3046541f9d5288c1256bc3004a038f?OpenDocument
18 Amnesty International Jahresbericht 2002: Kuba; http://www2.amnesty.de/internet/deall.nsf/c1070c04ee5add56c12567df002695be/c890c6474f6e439ec1256bc3004a209a?OpenDocument
19 vgl. Luis Alberto Matta: Colombia y las FARC-EP; Tafalla 1999, S. 17ff.
20 ebenda, S. 23
21 vgl. Die systematische Vernichtung der Gewerkschaftsbewegung in Kolumbien; http://www.redglobe.info/modules.php?name=News&filde=article&sid=287; abgerufen 3.5.03
22 George W. Bush: State of the Union Address, a.a.O.
23 http://www.state.gov/r/pa/ei/bgn/2886pf.htm; abgerufen 11.5.2002
24 http://fpc.state.gov/documents/organization/8121.pdf; abgerufen 20.5.2003
25 http://www.state.gov/r/pa/ei/bgn/2886pf.htm; abgerufen 11.5.2002
26 Noam Chomsky, a.a.O., S. 60
27 vgl. ANNCOL, 14.4.2003: Militares y paramilitares de Colombia contra Venezuela; http://www.anncol.org/?op=show&id=64&s=30; abgerufen 20.5.2003
28 „TEXT: STATE OFFICIAL DETAILS THREAT OF CHEMICAL, BIOLOGICAL WEAPONS“, 20. März 2002; http://usembassy.state.gov/posts/pk1/wwwh02032003.html; abgerufen 19.5.2003
29 John R. Bolton: Beyond the Axis of Evil – Additional Threats from Weapons of Mass Destruction, 6. Mai 2002; http://www.state.gov/t/us/rm/9962.htm; abgerufen 19.5.2003
30 ebenda
31 CRS Issue Brief for Congress: „Terrorism, the Future, and U.S. Foreign Policy“, 25. Februar 2002, S. 9; http://fpc.state.gov/documents/organization/9040.pdf; abgerufen 19.5.2003
32 Noam Chomsky, a.a.O., S. 49
33 zu seinem Wirken vgl. Taladrid / Barredo: El chairman soy YO; o.O. (wahrscheinlich Havanna) 1994
34 vgl. Project for the New American Century: Rebuilding America’s Defenses; Washington D.C. 2000
35 vgl. „Ultimas Noticias“, Caracas, 4.5.2003; „Granma Internacional“, Havanna, 9.5.2003