Rundfunk war in der Bundesrepublik lange die exklusive Domäne der öffentlich-rechtlichen Anstalten. Wenn man mal von Ausnahmen wie den US-amerikanischen, britischen und französischen Soldatensendern absieht, hatten die Stationen der ARD faktisch das alleinige Sagen über die Frequenzen. Erst Mitte der 1980er Jahre wurden dann auch Privatsender zugelassen. Doch eine Ausnahme gab es: Bereits seit 1955 sendete im Südwesten eine kommerzielle Rundfunkstation. Europe 1 betrieb im Saarland einen Langwellensender und funkte in französischer Sprache ins Nachbarland.
Möglich wurde das durch die besondere Situation des Saarlands zwischen beiden Ländern. Nach der Befreiung vom Faschismus 1945 war es unter französische Besatzung gekommen und ab 1946 wirtschaftlich Frankreich angegliedert worden, behielt jedoch eine gewisse Autonomie. Das nutzte der französische Geschäftsmann Charles Michelson, um im Saarland einen kommerziellen Sender zu gründen, der nach Frankreich funken sollte. Ein ähnliches Konzept hatte sich in den Jahren zuvor schon in Monaco bewährt, von wo aus Radio Monte Carlo sendete, und auch Radio Luxemburg stand Pate.
Allerdings bestand auch im Saarland ein Rundfunkmonopol, nur das offizielle Radio Saarbrücken war legal. Doch Michelson fand einen Verbündeten. Denn der damalige saarländische Ministerpräsident Johannes Hoffmann (Christliche Volkspartei des Saarlandes, CVP), träumte nicht nur von der Eigenstaatlichkeit des kleinen Landstrichs, sondern auch von einem eigenen Fernsehprogramm. So entstand 1953 Telesaar, der wohl erste kommerzielle Fernsehsender Europas, betrieben von Michelsons »Saarländischer Fernseh-AG«.
Hoffmann hatte sie mit »dem absonderlichsten Vertrag« ausgestattet, »der je zwischen einer Regierung und einem privaten Rundfunkunternehmer abgeschlossen worden ist«, wie es der Spiegel 1958 formulierte. Das Unternehmen erhielt nicht nur das Recht, 50 Jahre lang einen Fernseh- und einen Rundfunksender zu betreiben. Der offizielle saarländische Rundfunk wurde außerdem verpflichtet, die gesamte Technik gegen Barzahlung zu übernehmen, wenn das Unternehmen »durch Einwirkungen von dritter Stelle« gezwungen werden sollte, den Betrieb einzustellen. Außerdem sollte in diesem Fall für jedes an der Vertragslaufzeit fehlende Jahr eine Entschädigung in Höhe von fünf Prozent des investierten Kapitals fällig werden. Es drohten also Strafgelder in Millionenhöhe.
Trotzdem bedeutete die Rückkehr des Saarlands in die Bundesrepublik nach der Volksabstimmung 1957 das Ende für Telesaar, das im Juli 1958 den Betrieb einstellen musste. Europe 1 allerdings funkte weiter – und nicht wenige Beobachter gingen schon damals davon aus, dass es Michelson und seinem inzwischen als »Europäische Rundfunk- und Fernseh-AG« firmierenden Unternehmen ohnehin nur um das Radioprogramm gegangen war. Während der TV-Kanal defizitär blieb, erreichte Europe 1 Millionen Menschen in Frankreich und konnte Werbezeit teuer verkaufen. Dazu hatten nicht nur flotte Musik und lockere Moderation beigetragen, sondern auch eine gewisse journalistische Unabhängigkeit. So berichtete Europe 1 über die Foltermethoden der französischen Kolonialtruppen in Algerien – ein Tabuthema für den offiziellen Rundfunk.
Rechtlich war der Betrieb des in Saarlouis stehenden Langwellensenders jedoch »Piraterie im Äther«, wie der Spiegel 1961 einen Artikel überschrieb. Europe 1 verletzte das sowohl in Westdeutschland als auch in Frankreich geltende Verbot von Privatsendern. Paris allerdings hatte schon 1956 auf die eigenen Gesetze gepfiffen und über die staatliche Gesellschaft Sofirad rund die Hälfte der Aktien von Europe 1 übernommen, während Michelson ausgebootet worden war. Und bei Radio Saarbrücken, dem Vorläufer des Saarländischen Rundfunks, hoffte man auf die vertraglich zugesicherten Abgaben, denn – so der Spiegel – nur mit den Geldern der Privatgesellschaft könne der finanziell angeschlagene Saarfunk bestehen. Zähneknirschend akzeptierten die bundesdeutschen Behörden schließlich die Existenz des Senders, allerdings nur unter der Auflage, dass es keine deutschsprachigen Programme geben dürfe.
1986 verkaufte der französische Staat seine Anteile an Europe 1, das so wieder komplett in Privatbesitz war. Inzwischen setzte man nicht mehr nur auf die antiquierte Langwelle, sondern betrieb fast 200 UKW-Sender in Frankreich, wo man längst als rein einheimischer Kanal wahrgenommen wird. Am 31. Dezember 2019 wurde schließlich der Sender in Saarlouis abgeschaltet. Europe 1 ist seither nur noch über UKW, Satellit und Internet zu empfangen. Und ein Stück Rundfunkgeschichte ist wirklich Geschichte.
Erschienen am 25. Juni 2020 in der Tageszeitung junge Welt