Aus einem Bürogebäude am Potsdamer Platz meldete sich am 29. Oktober 1923 die »Sendestelle Berlin«. Schauplatz war der Firmensitz der »Vox-Schallplatten- und Sprechmaschinen-AG« und deren Tochtergesellschaft »Funk-Stunde AG«. Hinter beiden Unternehmen stand wiederum die »Hauptgesellschaft für Industrien«, deren Hauptfinanzier August Stauch sein Vermögen durch die Ausbeutung von Diamantvorkommen in der deutschen Kolonie Südwestafrika, dem heutigen Namibia, machte.
In dem 1971 abgerissenen »Vox-Haus« war es Friedrich Georg Knöpfke, der als Direktor der »Funk-Stunde AG« pünktlich um 20 Uhr abends den Start des regelmäßigen Radioprogramms verkündete: »Meine Damen und Herren, wir machen Ihnen davon Mitteilung, dass am heutigen Tage der Unterhaltungsrundfunkdienst mit Verbreitung von Musikvorführungen auf drahtlos telefonischem Wege beginnt. Die Benutzung ist genehmigungspflichtig.« Es folgte ein einstündiges, live in dem kleinen Studio aufgeführtes Konzert mit kurzen Stücken unter anderem von Mozart, Beethoven und Schumann. Als Abschluss der Sendung vermerkt das Protokoll »Vox-Platte: ›Deutschland, Deutschland über alles‹, gespielt vom Infanterie-Regiment III/9, Obermusikmeister Adolf Becker«.
Wie viele Menschen damals diese erste offizielle Rundfunksendung verfolgt haben, lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren. Viele waren es nicht. Es gab in jenem Oktober 1923 keinen einzigen registrierten Hörer, der die von Knöpfke in seiner Ansage angesprochene Genehmigung besaß. In Deutschland galoppierte die Inflation, und auch wenn der Preis für die Lizenz mit 350 Millionen Reichsmark nur ein Zehntel der Kosten für einen Liter Milch betrug, hatten die meisten Menschen in dieser Zeit andere Sorgen, als sich für ein neues Medium zu interessieren, zumal auch das für den Empfang notwendige Radio kaum erschwinglich war. Im Monat des Sendestarts war die Reichswehr in Sachsen und Thüringen einmarschiert, um die dort regierenden Koalitionen aus Sozialdemokratischer und Kommunistischer Partei zu stürzen. Wenige Tage später gingen in Hamburg Hunderte Arbeiter auf die Barrikaden, um das Signal zur Revolution gegen Hunger, Elend und Kapitalismus zu geben.
Politische Gefahr
Es war kein Zufall, dass das regelmäßige Rundfunkprogramm gerade in dieser Zeit aufgenommen wurde. Technisch wäre dieser Schritt schon Jahre zuvor möglich gewesen, aber bis zum Herbst 1923 sei »die freie Betätigung auf dem Funkgebiet (…) in Deutschland als eine politische Gefahr betrachtet« worden, wie der für den Funk zuständige Staatssekretär Hans Bredow später feststellte.¹ »Erst 1923, nachdem die politischen Verhältnisse in Deutschland sich konsolidiert hatten, gelang es, eine Freigabe des Empfangs zu erreichen, so dass die Reichspost sich bereit erklären konnte, jedermann gegen Zahlung einer bestimmten Gebühr auf Grund des Telegraphengesetzes die Benutzung eines Empfängers zu gestatten.«²
Bereits ab 1911 hatte das deutsche Militär in Königs Wusterhausen bei Berlin Funkanlagen errichtet und 1916, während des Ersten Weltkriegs, als »Zentralfunkstelle des Heeres« in Betrieb genommen. Von dort wurde täglich der Heeresbericht verbreitet, während aus Nauen, 60 Kilometer Luftlinie entfernt, das Außenministerium einen Pressedienst für Zeitungen in Amerika und Asien verbreitete. Eine Nachrichtenagentur, das »Wolffsche Telegraphenbureau«, sendete Meldungen für die Presse des neutralen Auslands. Es herrschte strenge Zensur, jeder Text musste von Reichsmarineamt oder Außenministerium freigegeben werden. Mit dem Erfolg dieser psychologischen Kriegführung war man allerdings nicht zufrieden und machte dafür schon damals »Fake News« verantwortlich, die natürlich nur von der Gegenseite verbreitet würden: »Der Ruhm jeder neuen Gewalttat Englands, jede Fanfaronade der feindlichen Staatsmänner, jede Lüge ihrer Helfershelfer in der Öffentlichkeit, die Einlage jeder amerikanischen Speckschwarte in die Falle für die ideologischen Mäuse, wurde bis in die fernsten Winkel des Erdkreises verbreitet, um einzuschüchtern und Verwirrung in die Geister zu bringen.«³
Praktisch als Vorläufer späterer Soldatensender gab es auch schon im Ersten Weltkrieg Versuche, neben den offiziellen Durchsagen von Oberkommando und Staatsapparat auch Sprache und Musik zu verbreiten, um die Soldaten an der Front zu unterhalten und abzulenken. Zu erreichen waren damit zumindest die Funker in den Nachrichtentruppen, deren Zahl während des Krieges auf rund 185.000 Mann anwuchs. So nutzte der in einer Telegrafeneinheit an der Westfront bei Reims stationierte Hans Bredow die ihm zur Verfügung stehende Technik, um kleine Konzerte und Lesungen zu übertragen. »Ich hatte dort ein kleines Team«, erinnerte er sich 1954 in einem Interview mit dem Südwestfunk. »Einer von meinen Funkern sang sehr nett. Ein anderer spielte Geige, einer spielte gefühlvoll Mundharmonika. Und so legte ich damit los und verbreitete Programme. Ich bin auf diese Weise der erste Ansager geworden und der erste Programmdirektor, denn ich stellte die Programme zusammen und sagte sie an. Ich las aus Zeitungen vor, las einen Roman in Fortsetzungen, täglich ein Stück, und wir machten Musik.«⁴ Dem Oberkommando waren die Programme von Bredows »Soldatensender« aber bald ein Dorn im Auge. Sie wurden verboten, weil sie Störungen verursacht und die Funker von ihrer Arbeit abgelenkt hätten.
Marconis Diebstahl
Erst 35 Jahre zuvor, 1888, hatte Heinrich Hertz die Existenz elektromagnetischer Wellen nachgewiesen, die ein Signal drahtlos übertragen können. Bei dem dazu benutzten Einsatz eines Oszillators und der »Rühmkorff-Spule«, mit der im 19. Jahrhundert Hochspannungsimpulse erzeugt werden konnten, entstanden Funken. Der Name für das spätere Medium war damit zumindest im deutschen Sprachraum geboren. 1895 gelang dem russischen Physiker Alexander Stepanowitsch Popow in St. Petersburg die erste erfolgreiche Vorführung einer Funkübertragung. In einem im Januar 1896 durch das Journal der Russischen Gesellschaft für Physik und Chemie publizierten Artikel beschrieb er detailliert die Funktionsweise eines Funkempfängers und bewies dessen praktische Funktionsfähigkeit am 24. März 1896.
Im Juni 1896 ließ sich der Italiener Guglielmo Marconi in Großbritannien einen Apparat patentrechtlich schützen, der auf Popows Funktionsweise basierte. Dessen Versuche, dagegen vorzugehen, blieben erfolglos. Der Name Marconi ist heute weltbekannt – und nachdem es ihm 1901 erstmals gelungen war, ein Funksignal über den Atlantik zu senden, wurde er 1909 mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet. Weniger gerne erinnern seine Fans heute daran, dass sich Marconi 1923 Mussolinis Faschisten anschloss, was seiner Karriere gut tat. 1928 wurde er zum Präsidenten des italienischen Nationalrats für Wissenschaften ernannt, 1930 auf persönlichen Vorschlag von Mussolini Chef der Königlichen Nationalen Akademie der Wissenschaften und Mitglied im »Großen Faschistischen Rat«. Der bereits 1906 verstorbene Popow wird dagegen nur noch in seiner Heimat als »Erfinder« des Rundfunks geehrt.
Praktischen Nutzen hatten die Entwicklungen von Popow und Marconi bald vor allem für die Kommunikation auf hoher See. Schiffe konnten nun mit Hilfe der Funktechnik und des nach seinem Erfinder Samuel F. B. Morse benannten Morse-Codes auch unterwegs Nachrichten übermitteln. So am 15. April 1912, als der »Marconist« Jack Phillips um 0.10 Uhr einen Funkspruch durchgab: »41° 46’N 50° 14’W – sinken – brauchen sofort Hilfe«. Es war der Hilferuf der »Titanic«, die einen Eisberg gerammt hatte und unterging. Durch den Funkspruch konnte Hilfe herbeigerufen werden, etwa 700 Menschen wurden aus dem eiskalten Wasser gerettet. Die Funkstation auf dem Luxusdampfer gehörte der Marconi Wireless Telegraph Co. und bot betuchten Passagieren einen hochmodernen Service: Sie konnten Telegramme (»Marconigramme« genannt) versenden, zehn Worte kosteten zwölf Schilling – heute etwa 250 Euro. Das war ein gutes Geschäft für Marconis Unternehmen, Warnungen vor Eisbergen störten da nur. Da die Funker mit den privaten Botschaften der Passagiere beschäftigt waren, wurden die meisten der insgesamt mindestens acht Eisbergwarnungen nicht an die Brücke weitergeleitet.
Der Funkverkehr Anfang des 20. Jahrhunderts beschränkte sich auf das Senden kurzer oder längerer Impulse, die aufgefangen und nach dem Morse-Code entziffert werden mussten. Doch schon um die Jahrhundertwende gab es Versuche, auch Sprache und Musik drahtlos zu übertragen. Als in diesem Sinne erste Rundfunksendung der Geschichte gilt heute eine von dem kanadischen Wissenschaftler Reginald Aubrey Fessenden realisierte Übertragung am 24. Dezember 1906. Funker auf Schiffen vor der US-Küste konnten passend zum Heiligabend Weihnachtsgrüße, Bibelzitate und ein von ihm selbst auf der Geige gespieltes Lied hören.⁵ Fessenden selbst behauptete, dass ihm bereits sechs Jahre zuvor, am 23. Dezember 1900, die erste Sprachübertragung über eine Entfernung von einer Meile (1,6 Kilometer) gelungen sei. Unabhängige Belege dafür gibt es allerdings nicht. Auch in Brasilien berichteten Zeitungen schon um die Jahrhundertwende wiederholt von Experimenten des katholischen Priesters Roberto Landell de Moura, dem es gelungen sei, drahtlos Sprache zu übertragen.⁶ Am 9. März 1901 reichte der Geistliche in Brasilien ein Patent für einen »Apparat für Sprachübertragung mit und ohne Draht, durch Raum, über die Erde und das Wasser, bei Sonne oder Regen, starkem Nebel und auch bei Winden« ein. Anschließend ließ er sich vom Priesteramt entbinden und ging in die USA, wo er in Washington ebenfalls Patente für seine Erfindungen beantragte und offenbar auch erhielt.⁷ Wirtschaftlicher Erfolg blieb ihm in Nordamerika allerdings verwehrt, so dass er 1904 nach Brasilien und in das Priesteramt zurückkehrte.
Im allgemeinen blieb die Drahtloskommunikation zunächst ebenso wie die kabelgebundene Telegraphie eine Verbindung zwischen einem Sender und einer klar bestimmten Gegenstelle, zufällige oder absichtliche Mithörer waren nicht gemeint und im Normalfall auch nicht erwünscht. Für den entscheidenden Schritt zum Rundfunk »an alle« machen manche Historiker Wladimir Iljitsch Lenin verantwortlich. So schrieb Manfred Schneider Anfang 2020 in der Neuen Zürcher Zeitung, Lenins am 12. November 1917 per Funk verbreitete Nachricht vom Sieg der Bolschewiki in Russland sei der »Taufspruch für das Radio« gewesen: »Nie zuvor konnte sich ein Medium in dieser Form ›an alle‹ wenden.«⁸ Lenin hatte die Funker unmittelbar nach der Oktoberrevolution melden lassen: »Der Gesamtrussische Sowjetkongress hat eine neue, eine Sowjetregierung gebildet. Die Kerenski-Regierung ist gestürzt und verhaftet. Kerenski ist geflüchtet. Alle Behörden sind in den Händen der Sowjetregierung. (…) Wir bringen zur Kenntnis, dass der Sowjetkongress, dessen Teilnehmer bereits abgereist sind, zwei wichtige Dekrete angenommen hat: 1. über den sofortigen Übergang aller Ländereien der Gutsbesitzer an die Bauernkomitees und 2. über das Angebot eines demokratischen Friedens.«⁹
Im Dienst der Revolution
Auch wenn Lenin die Bedeutung des neuen Mediums als »Zeitung ohne Papier und ›ohne Entfernungen‹«¹⁰ früher als andere erkannte, geht die Einschätzung, ihn zum Erfinder des Rundfunks zu machen, wohl zu weit. Auch zuvor schon wurden Meldungen, die sich nicht an eine einzelne Empfangsstelle richteten, mit der Anrede »An alle« eingeleitet, etwa die Heeresberichte aus Königs Wusterhausen während des Krieges.
Das mindert nicht die Bedeutung der ersten Funksprüche der Oktoberrevolution, die insbesondere bei Militärfunkern in Deutschland aufmerksam registriert wurden. Der Vorwärts, die Zeitung der SPD, titelte am 13. November 1917: »Russland für Waffenstillstand und Frieden«. In dem Aufmacher heißt es: »Die neue russische Regierung geht mit wahrhaft revolutionärer Entschiedenheit auf ihr Ziel los. Sie schlägt einen sofortigen Waffenstillstand an allen Fronten vor. (…) Man erhebt den Einwand, dass die gegenwärtige Regierung Russlands vielleicht gar nicht imstande sei, im Namen des russischen Reiches zu handeln, und dass sie bald wieder durch Gewalt gestürzt sein könnte, wie sie durch Gewalt ans Ruder gelangt ist. Aber ihr Friedensvorschlag würde auch dann eine geschichtliche Tatsache bleiben, die das Erbe ihrer Nachfolger belastet. Es kann möglicherweise leichter sein, die gegenwärtige Regierung zu stürzen, als ihren Vorschlag zu widerrufen, der zweifellos dem Willen des russischen Volkes entspricht.«¹¹
Ein Jahr später folgten die deutschen Revolutionäre dem Beispiel der russischen Genossinnen und Genossen. Als am 4. November 1918 in Kiel die Matrosen rebellierten, besetzten sie die Funkanlagen der örtlichen Marinestation und verbreiteten über sie ihre Forderungen: »Kameraden! Der gestrige Tag wird in der Geschichte Deutschlands ewig denkwürdig sein. Zum ersten Mal ist die politische Macht in die Hände der Soldaten gelegt. Ein Zurück gibt es nicht mehr! Große Aufgaben liegen vor uns. Aber damit sie erfüllt werden können, ist Einigkeit und Geschlossenheit der Bewegung notwendig.«¹² Das sei eine »revolutionäre Tat« gewesen, kommentierte Kurt Smettan 1972, denn »hier sprach zum ersten Male im Äther die Stimme der deutschen Arbeiterklasse«.¹³ Wobei »sprechen« einmal mehr im übertragenen Sinne gemeint ist, denn auch diese erste Nachricht der deutschen Novemberrevolution wurde per Morsecode übermittelt, ebenso wie wenige Tage später die Meldung vom Sturz der Monarchie. Am 9. November 1918 besetzten Vertreter des neugebildeten Berliner Arbeiter- und Soldatenrates das Wolffsche Telegraphenbureau und verbreiteten einen Aufruf »An alle! Hier hat die Revolution einen glänzenden fast ganz unblutigen Sieg errungen.«
Die revolutionären Soldaten bildeten eine »Zentrale Funkleitung« (ZFL). Ihre Leiter, der zivile Ingenieur Theordor Meyenburg sowie ein Unteroffizier der Technischen Abteilung für Funkgerät, von dem nur der Nachname Hartmann bekannt ist, teilten von Königs Wusterhausen aus mit, dass sie die Führung über alle Stationen des deutschen Funknetzes übernommen haben. Man werde ein von der Postverwaltung unabhängiges Nachrichtennetz aufbauen, um die in der unmittelbaren Nachkriegszeit teilweise abgebrochenen Verbindungen wiederherzustellen. Die Mannschaften in den Nachrichtenabteilungen wurden aufgefordert, sich der ZFL anzuschließen und ihren Weisungen zu folgen. Bald kontrollierte sie zahlreiche betriebsfertige Militärstationen mit Reichweiten von jeweils mehreren hundert Kilometern.¹⁴
Es folgte ein mehrwöchiger Machtkampf zwischen den Arbeiter- und Soldatenräten und der Zentralen Funkleitung einerseits sowie dem als Übergangsregierung gebildeten »Rat der Volksbeauftragten« und der Reichspost andererseits. 1892 hatte Kaiser Wilhelm II. im »Gesetz über das Telegraphenwesen des Deutschen Reichs« festgelegt, dass »ausschließlich dem Reich« das Recht zustehe, »Telegraphenanlagen für die Vermittlung von Nachrichten zu errichten und zu betreiben«.¹⁵ Für die Umsetzung war das Reichspostamt verantwortlich. Daran wollten die neuen Machthaber festhalten. Am 22. November 1918 ordnete der »Rat der Volksbeauftragten« in einer von den beiden Vorsitzenden Friedrich Ebert (SPD) und Hugo Haase (USPD) unterzeichneten Bekanntmachung die Entmachtung der Zentralen Funkleitung an. Ein Antrag der ZFL an die Regierung, ihr die Verantwortung für den gesamten Funkbetrieb im In- und Ausland zu übertragen, wurden von dem Sozialdemokraten Philipp Scheidemann, der im »Rat der Volksbeauftragten« für die Finanzen, aber auch für das Presse- und Nachrichtenwesen zuständig war, abgelehnt.¹⁶
Der »Vollzugsrat des Arbeiter- und Soldatenrates Groß-Berlin«, der die politische Macht in Deutschland und die Kontrolle der Exekutive beanspruchte, antwortete auf die Erklärung Eberts und Haases noch am selben Tag mit einer eigenen Interpretation. Man wolle Behörden, die sich in den Dienst der neuen Ordnung gestellt hätten, ihre Arbeit machen lassen, aber »die für den Geist des Ganzen entscheidenden Stellen sind, im Einverständnis mit der revolutionären Regierung, neu zu besetzen, wenn eine scharfe Kontrolle nicht ausreichend erscheint«. Als Konsequenz daraus erteilte der Vollzugsrat der ZFL die Vollmacht, die ihm Scheidemann verweigert hatte.¹⁷
Die bürgerliche Presse stellte sich in dieser Auseinandersetzung offen auf die Seite der Regierung. So hieß es am 30. November 1918 in der Berliner Börsen-Zeitung, dass sich das gesamte Netz der Funkstationen in der Hand der USPD und der von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg geführten Spartakus-Gruppe befinde: »Daran ändert auch nichts ein Dementi der Zentral-Funkleitung, die (…) sich den Anschein zu geben versucht, als sei sie eine von der Regierung eingesetzte Behörde (…). Demgegenüber muss betont werden, dass die Zentral-Funkleitung völlig unter dem Einfluss der Herren Liebknecht und Ledebour steht und dass sie es verstanden hat, zusammen mit dem Vollzugsrat die Regierung (…) beiseite zu schieben und sich als eigene unabhängige Behörde zu konstituieren.« Das Blatt unkte, dass die Siegermächte als Reaktion darauf »demnächst den Funkenverkehr mit Deutschland vollständig abbrechen« könnten.¹⁸ Hans Bredow, der inzwischen als Sachverständiger und technischer Direktor der »Telefunken«-Gesellschaft Lobbyarbeit für die Post machte, bezeichnete die Bildung der ZFL in einem Beitrag für die konservative Deutsche Tageszeitung am 1. Dezember 1918 als »eine Art Putsch« der den Spartakisten nahestehenden USPD-Vertreter. Dagegen müsse »mit allen Mitteln vorgegangen werden, da die Ausübung des Nachrichtenverkehrs selbstverständlich eine Regierungsmaßnahme ist«.¹⁹
Ende der Zentralen Funkleitung
Obwohl Scheidemann noch Mitte Dezember beteuerte, er wolle die ZFL nicht zerschlagen, wurde sie Schritt für Schritt entmachtet. In einer am 4. Dezember 1918 gegründeten »Reichsfunkkommission« sollte sie nur noch die Rolle der »Vertreterin der gewerkschaftlichen und sozialen Interessen des im Funkdienst beschäftigten Personals«²⁰ spielen und sich ansonsten der Mehrheit von Reichspost, Auswärtigem Amt, Kriegsministerium, Reichsschatzamt und Reichsmarineamt unterordnen. Zunehmend wurde außerdem auch die der ZFL ursprünglich zugedachte Rolle immer mehr in Frage gestellt, denn nach und nach kamen weitere Berufsvereinigungen hinzu, unter anderem Zusammenschlüsse von Postbeamten mittleren und höheren Ranges. Die ZFL begrüßte deren Aufnahme zunächst als Gegengewicht zur Dominanz der Behörden und Ministerien, musste aber schnell feststellen, dass sie in den neuen Akteuren keine Verbündete hatte. Zum Leiter der Kommission wurde im Januar 1919 Hans Bredow bestellt, der kurz zuvor seinen Posten bei der »Telefunken« aufgegeben hatte, um Ministerialdirektor und Leiter der neuen Abteilung »Funkentelegraphie« der Reichspost zu werden. Zudem hatte er sich den reaktionären Freikorps angeschlossen, um »Nachts gegen Spartakus« dazu beizutragen, die Revolution in Deutschland endgültig abzuwürgen.²¹
Ende Januar 1919 wurde die Rundfunkkommission aufgelöst und in eine neue Rundfunkbetriebsverwaltung (RBV) überführt, die direkt der Regierung unterstellt war und deren Leitung erneut Bredow übernahm. Damit stand die neue Behörde praktisch unter der direkten Kontrolle des Reichspostministeriums, was die Zentrale Funkleitung zähneknirschend akzeptieren musste. Am 9. April 1919 beschloss die Regierung, die RBV dem Postministerium anzuschließen, das sie »nach seinem Ermessen zusammenzusetzen und zu verwenden« habe.²² Das war das Ende der Zentralen Funkleitung und auch der letzten Spuren des revolutionären Aufbruchs vom November 1918.
Im September 1919 übernahm die Reichspost wieder die Sendeanlagen in Königs Wusterhausen und richtete dort ihre »Hauptfunkstelle« ein. Von dort aus wurde ab April 1920 der Eildienst für amtliche und private Handelsnachrichten mit Börsenkursen und Wirtschaftsmeldungen an etwa 80 Dienststellen der Post gesendet, die diese an einen kleinen Kreis von Abonnenten weiterleiteten. Als der Dienst 1922 auf Sprechfunk umgestellt wurde, ergriffen die Behörden Maßnahmen, damit die Nutzer keinen Zugriff auf andere Dienste hatten. Die Empfänger wurden von der Post gestellt, die Geräte waren auf die Wellenlänge des Dienstes eingestellt und verplombt.²³
Unter Staatskontrolle
Bredow war nun der Herrscher über den Rundfunk und sorgte während seiner Amtszeit bis zur Machtübergabe an die Faschisten 1933 dafür, dass das neue Medium gegen alle Einflüsse aus der Bevölkerung abgeschottet blieb. Zunächst als Ministerialdirektor und ab 1921 als Reichsrundfunkkommissar bzw. Staatssekretär für das Telegrafen-, Fernsprech- und Funkwesen sorgte er dafür, dass sich der Staat nicht nur das Recht vorbehielt, Sendeanlagen zu betreiben, sondern dieses auch auf Empfangsgeräte ausgeweitet wurde. Bis 1923 galt in Deutschland ein Verbot für Privatpersonen, Funksendungen zu empfangen. Danach war eine Funkempfangsgenehmigung vorgeschrieben, die an eine Rundfunkgebühr gebunden war, deren Höhe 1924 etwa einem Drittel des durchschnittlichen Monatsgehalts entsprach.
Anmerkungen
1 Hans Bredow: Im Banne der Ätherwellen, Bd. 2, München 1950, S. 177; zit. n. Beiträge zur Geschichte des Rundfunks (1968), Nr.4, S. 59
2 Hans Bredow: Vier Jahre deutscher Rundfunk, Berlin 1927, S. 11
3 Emil Sax: Die Verkehrsmittel in Volks- und Staatswirtschaft, Bd. 2 (1920), zit. n. Peter Dahl: Arbeitersender und Volksempfänger, Frankfurt am Main 1978, S. 15
4 Hans Bredow: Der Weg zum Rundfunk, kurzelinks.de/Bredow
5 Marc Montgomery: Canada History: Beginning of radio (maybe), Dec.12, 1901, kurzelinks.de/Canada_Radio
6 Aminharadio: Roberto Landell de Moura, kurzelinks.de/landell
7 Correspodências entre Landell de o U. S.Patent Office – USA, kurzelinks.de/landell_2
8 Manfred Schneider: »An alle, an alle!« – Vor hundert Jahren ging das Radio auf Sendung; in: Neue Zürcher Zeitung, 27.1.2020; www.nzz.ch/meinung/radio-geschichte-einer-erfindung-die-optimismus-verbreitete-ld.1535089
9 Funkspruch des Rats der Volkskommissare, 30. Oktober (12. November) 1917; in: Lenin-Werke, Bd. 26, S. 265
10 W. I. Lenin: An M. A. Bontsch-Brujewitsch (5.2.1920); in: Lenin-Werke, Bd. 35, S. 413
11 Vorwärts, 13. November 1917, S. 1
12 Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Berlin 1966, Bd. 3, S. 470 f.
13 Kurt Smettan: »Schwarzhörer« und »Schwarzsender« – ein Kapitel Klassenkampf im Rundfunk; in: Beiträge zur Geschichte des Rundfunks (1972), Nr. 1, S. 59
14 Winfried B. Lerg: Die Entstehung des Rundfunks in Deutschland, Frankfurt am Main 1965, S. 49
15 Gesetz über das Telegraphenwesen des Deutschen Reichs vom 6. April 1892
16 Britta Kristina Suwelack: Hans Bredow – Ein Leben für den Rundfunk, Mittweida 2009, S. 11, kurzelinks.de/Bredow_2
17 Lerg, a. a. O., S. 52
18 Berliner Börsen-Zeitung, Abendausgabe, 30.11.1918, S. 5
19 Hans Bredow: Im Banne der Ätherwellen, Bd. 2, Stuttgart 1956, S. 89 f.; zit. n. Lerg, a. a. O., S. 55
20 Konrad Dussel: Deutsche Rundfunkgeschichte, Konstanz 2004, S. 24
21 Artikelüberschrift von Bredows Memoiren »Im Banne der Ätherwellen«; www.gbv.de/dms/weimar/toc/361214758_toc.pdf. Sein von Gustav Noske unterzeichneter Mitgliedsausweis der »Freiwilligen-Verbände« ist dokumentiert in: Beiträge zur Geschichte des Rundfunks (Berlin/DDR), Nr. 3/68, S. Dokument VI
22 Lerg, a. a. O., S. 81
23 Dahl, a. a. O. (Anm. 3), S. 18 f.
Erschienen am 4. Januar 2023 in der Tageszeitung junge Welt