Im September kommen in Berlin rund 1.000 Delegierte aus allen Teilen des Landes und allen möglichen Branchen zusammen, um auf dem 6. Bundeskongress von ver.di über die weitere Arbeit der Gewerkschaft zu diskutieren, Beschlüsse zu fassen und den Vorstand zu wählen. Der siebentägige Kongress, das höchste Gremium unserer Gewerkschaft, ist der Höhepunkt eines monatelangen, intensiven Prozesses, der die gesamte Organisation erfasst. Es begann mit Mitgliederversammlungen vor Ort über Konferenzen in Bezirken und Landesbezirken bis hin zu den bundesweiten Versammlungen.
Für uns dabei natürlich von besonderem Interesse waren die Bundesfachgruppenkonferenz Luftverkehr und Maritime Wirtschaft im Februar sowie die Bundesfachbereichskonferenz im April. Hier wurden
die Weichen für unsere weitere Arbeit in den kommenden Jahren gestellt. So werden wir uns gemeinsam dafür einsetzen, dass die See- und Binnenhäfen mit angeschlossenen Hinterlandnetzwerken als kritische Infrastruktur anerkannt werden und in der öffentlichen Hand verbleiben. Nur so können sie entsprechend
des öffentlichen Interesses für die Zukunft fit gemacht werden: „Es sind von politischer Seite auskömmliche Investitionsmaßnahmen vorzunehmen, um die vorhandene Infrastruktur (zum Beispiel Kaimauern, Hafeneisenbahn und Schienenhinterlandverkehr, Wasserstraßen/Schleusen) adäquat instand zu halten, bedarfsgerecht und zukunftsfähig auszubauen. Dies umfasst neben den originären Hafenflächen auch die Hinterlandinfrastruktur außerhalb der Häfen und korrelierende Transportnetze sowie die digitale Infrastruktur der Häfen. Häfen müssen ihren Beitrag zur Reduktion von klimaschädlichen Treibhausgasen leisten und in Eigenverantwortung entsprechende Maßnahmen ergreifen.“
Die laufenden Veränderungen in allen Bereichen der Maritimen Wirtschaft stellen gerade auch für die Beschäftigten eine besondere Herausforderung dar. Insbesondere Digitalisierungs- und Automatisierungsprozesse haben Auswirkungen auf die Möglichkeiten der Mitbestimmung, die sich im
Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) bisher nicht widerspiegeln. Deshalb waren sich die Delegierten der Bundesfachgruppenkonferenz einig, dass eine Reform des Gesetzes nötig ist und forderten eine „Ausweitung der Mitbestimmungsmöglichkeiten in Transformationsprozessen, sodass betriebliche und gewerkschaftliche Interessenvertretungen frühzeitig in betriebliche Veränderungsprozesse einbezogen werden und mitentscheiden können.“
Das gilt insbesondere auch für Paragraph 116 des BetrVG, in dem die Wahl und Rolle der Seebetriebsräte ge regelt wird. Hier ist eine Reform besonders dringend, denn in der deutschen Seeschifffahrt gibt es kaum noch Seebetriebsräte. Die vorgeschriebene Anzahl für die Wählbarkeit (die Anzahl der Schiffe oder Besatzungsmitglieder) muss deshalb der Entwicklung entsprechend angepasst werden.
Insgesamt „aus dem Ruder gelaufen“ sei die Schifffahrtspolitik des Bundes, so die Delegierten im Februar in Berlin. Wir verzeichnen in Deutschland inzwischen die geringste Anzahl an Auszubildenden überhaupt und eine stetig sinkende Anzahl an Seeleuten. In der Folge beklagen die Akteur*innen in der maritimen Branche einen Mangel an Fachkräften mit ausreichender Seefahrterfahrung. Dieses umfangreiche spezielle Wissen lässt sich mit Ausbildungswegen vor Ort nicht in der gleichen Qualität erwerben. Deshalb muss die Schifffahrtspolitik auf mehr Ausbildung und Beschäftigung ausgerichtet werden. Alle Schiffe, die unter EU-Flaggen fahren, müssen zur Ausbildung verpflichtet werden, Schiffe unter Billigflaggen sollen keine Vorzüge mehr über die Tonnagesteuerregelung erhalten. Zudem muss die Nationalitätenverordnung in der Schiffsbesetzungsverordnung wieder mindestens vier deutsche Seeleute an Bord verbindlich vorschreiben.
Im Bereich der nationalen Schifffahrt soll das Führen der deutschen Flagge vorgeschrieben werden, um dadurch und durch vergleichbare weitere Vorschriften die Ausbildung zu erhalten und die Seearbeitsplätze zu sichern. Für die Binnenschifffahrt muss zudem der Mindestlohnanspruch verbindlich zur Anwendung kommen. Gemeinsam mit der Europäischen Transportarbeiterföderation (ETF) sollte ver.di anstreben, einen einheitlichen europäischen Tarifvertrag für die Binnenschifffahrt im Bereich Cruise und Fracht zu vereinbaren. So war es besonders gut, dass mit Livia Spera die Generalsekretärin der ETF an unserer Konferenz teilgenommen hatte. In ihrem Grußwort hob sie die Bedeutung der gemeinsamen Arbeit von ETF und ver.di hervor, denn es gehe um eine Transportwirtschaft, in der die arbeitenden Menschen im Mittelpunkt stehen. Dazu werde man koordiniert bei den multinationalen Unternehmen arbeiten und Einfluss auf die Institutionen der EU nehmen.
Erschienen im August 2023 in der Waterfront Nr. 1/2023