Das Hamburger Abendblatt jubelte: »Alle KP-Büros ohne Widerstand geschlossen«. In den größeren Städten der Bundesrepublik habe die Polizei die Gebäude der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) und ihrer Zeitungen und Druckereien besetzt, schrieb die Springer-Zeitung am 18. August 1956. Einen Tag zuvor hatte das Bundesverfassungsgericht die KPD verboten, die Kommunisten sollten mundtot gemacht werden. Doch das misslang. In einer Randnotiz teilte das Hamburger Abendblatt mit: »Ein sogenannter Deutscher Freiheitssender nahm seine Tätigkeit auf.«
Über Mittelwelle meldete sich von nun an mehrfach täglich der Deutsche Freiheitssender 904. Zwei seiner Mitarbeiter, Hans Canjé und Achim Becker, erinnerten sich 2006 in einem Beitrag für junge Welt an die erste Sendung nur wenige Stunden nach dem Urteil des obersten westdeutschen Gerichts: »Über die Anfangstakte von Beethovens ›Freude schöner Götterfunke‹ verkündet eine unpathetische, aber sich Aufmerksamkeit verschaffende Stimme: ›Hier ist der Deutsche Freiheitssender 904 – der einzige Sender der Bundesrepublik, der nicht unter Regierungskontrolle steht.‹ (…) Verlesen wurde in dieser ersten Sendung eine Erklärung des Parteivorstandes der KPD zu der am Vormittag verkündeten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe über das von der Adenauer-Regierung im November 1951 beantragte Verbot der Partei. Dann ging es in der Sendung recht martialisch weiter: Die Namen der für das Verbot Verantwortlichen wurden genannt und hinter jedem Namen folgte, von uns eingefügt, ein Tonausschnitt aus der Urteilsverkündung im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess aus dem Jahr 1946: ›… zum Tode durch den Strang‹.«
Die illegale Stimme der KPD sorgte für Aufregung und Spekulationen, zumal man besonders in der Anfangszeit einige Mühe darauf verwendete, sich als Untergrundsender auszugeben, der von irgendwo in der Bundesrepublik aus betrieben wurde. Sendungen wurden immer wieder kurz unterbrochen, weil Peilwagen der Bundespost oder die Polizei gefährlich nahe gekommen seien, oder man entschuldigte sich für Probleme, »weil wir unter schwierigsten Bedingungen senden müssen«. Im November 1956 zitierte das Neue Deutschland aus einem Beitrag der Süddeutschen Zeitung, wonach der Verfassungsschutz nach 904 fahnde: »Der Sender führe seine Tätigkeit im ›Raum von Hannover‹ durch, sei jedoch ein ›fliegender Sender‹, heißt es in der Zeitung.«
Tatsächlich stand die Sendeanlage in Burg bei Magdeburg. Obwohl das im Westen bald kein Geheimnis mehr war, blieb der Reiz des Verbotenen. Zudem konnte 904 mit überraschend detaillierten Nachrichten aufwarten, zum Beispiel mit Warnungen vor Verkehrskontrollen oder – an die Soldaten der Bundeswehr gerichtet – mit Hinweisen auf bevorstehende Nachtübungen.
»Selbstverständlich bezog DFS 904 zum Teil Informationen aus den westdeutschen Zeitungen und ihren Lokal- und Regionalausgaben«, schrieben Becker und Canjé 2006 in der jW. »Wesentlicher waren aber die eigenen Recherchen vor Ort. Dabei galt Faktenbezug und Detailtreue in der Darstellung als erstes Gebot. (…) Wenn dann am Abend desselben oder nächsten Tages ein entsprechender Beitrag über den Sender ging oder zum Beispiel ›Kohlemax‹, ein Ruhrgebietler von echtem Schrott und Korn, seine mit diesen Fakten angereicherte Betrachtung in den Äther sprach, dann kam das bei der arbeitenden Bevölkerung gut an (…) Hin und wieder gab es Tage später einen freundlichen Händedruck von einem Arbeiter, der sich (trotz aller Konspiration) daran erinnerte, dass er uns informiert oder gar ins Mikrofon gesprochen hatte.«
Hinzu kamen immer wieder rätselhafte Durchsagen: »Wir rufen den Stellvertreter von Drosselbart. Die Karawane trifft zwei Stunden früher ein.« Viele Hörer vermuteten, dass sich diese Ansagen an Gruppen der KPD im Untergrund richteten. Tatsächlich waren die »Eidechsen«, wie diese kurzen Statements bei den Mitarbeitern genannt wurden, vor allem ein Werbegag.
Hauptgrund, 904 einzuschalten, war für die meisten Hörer jedoch die Musik. Auf dem Freiheitssender gab es die neuesten Hits, ohne dass die Moderatoren aus Rücksicht auf die um ihre Umsätze besorgte Schallplattenindustrie in die Lieder hineinquatschten. Die Stücke besorgte man sich einfach bei der Konkurrenz im Westen oder auch bei Piratensendern wie Radio Caroline, das von einem Schiff in der Nordsee aus funkte (siehe jW vom 15.8.2019). »Wir haben mitgeschnitten auf Teufel komm raus«, erzählte Canjé in einem Interview, das im August 2006 in der jW erschien. »Schallplattenkauf war auch eine ganz wichtige Sache auf unseren Reisen. Wir haben nicht nur Streikberichterstattung gemacht, sondern auch in den Musikgeschäften aktuelle Raritäten gekauft.«
15 Jahre lang sendete der Freiheitssender mehrmals täglich – bis zum 30. September 1971. Knapp zwei Wochen später meldete das Nachrichtenmagazin Der Spiegel: »Mit dem Sendeschluss, so vermuten westliche Geheimdienstler, will die DDR das Ende der verfassungswidrigen KPD signalisieren, deren Chef Max Reimann am 27. September Mitglied der (1968 gegründeten) Deutschen Kommunistischen Partei geworden ist.«
Erschienen am 16. Januar 2020 in der Tageszeitung junge Welt